Wie wäre es, wenn wir Zehntausenden, vielleicht Hunderttausenden Menschen in Deutschland einen Partner für ein politisches Zwiegespräch vermitteln könnten? Und was wäre, wenn uns das anschließend in vielen Ländern der Erde gelänge: in Argentinien, den USA, Kanada, den Niederlanden, Österreich, Polen?
Das haben wir uns Anfang des Jahres in der Redaktion von ZEIT ONLINE gefragt. Unser Projekt “Deutschland spricht” lag da bereits einige Monate zurück. Im Frühjahr 2017 hatten sich 12.000 Leserinnen und Leser bei uns angemeldet, die einen politisch Andersdenkenden aus ihrer Nachbarschaft treffen wollten. Ein eigens programmierter Algorithmus bildete aus ihnen Paare, die sich am 18. Juni 2017 überall in Deutschland zum politischen Zwiegespräch trafen. (Hier kann man nachlesen, wie wir “Deutschland spricht” organisiert haben. Das Projekt ist mittlerweile für den renommierten Grimme Online Award nominiert.)
Die Idee zu “Deutschland spricht” kam uns wenige Wochen nachdem Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden war. Es war die Zeit vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich, bei der Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National Aussichten auf einen Wahlsieg hatte. Das Jahr der Bundestagswahl. In Deutschland sollte uns nicht passieren, was in anderen Ländern bereits weit fortgeschritten ist: Dass sich die Gesellschaft in zwei Lager spaltet, die nur noch übereinander, aber nicht mehr miteinander reden.
Nicht nur die teilnehmenden Paare waren nach den Gesprächen von “Deutschland spricht” begeistert. Uns erreichten Anrufe und Mails aus Österreich, der Schweiz, aus Argentinien, den USA und Japan. Die Kollegen dort wollten wissen, wie sie eine ähnliche Aktion in ihrem eigenen Land organisieren könnten. Auch bei ihnen, so berichteten sie uns, drifteten die Gesellschaften auseinander, drohe das konstruktive Gespräch zu verstummen.
Wir entschlossen uns, “Deutschland spricht” zu internationalisieren. Seit Anfang des Jahres arbeiten wir gemeinsam mit nationalen und internationalen Partnern am Aufbau einer Plattform, die es jeder Zeitung, jedem Onlinemedium, jedem Radio- oder TV-Sender auf der Welt ermöglichen soll, eine vergleichbare Aktion im eigenen Land zu veranstalten. Die neue Plattform heißt My Country Talks. (Wenn Sie an dem Projekt interessiert sind oder Partner werden wollen, schreiben Sie uns an mct@zeit.de).
Das Prinzip ist ähnlich simpel wie bei unserem Prototypen „Deutschland spricht“. Anhand von fünf trennscharfen Ja/Nein-Fragen (zum Beispiel: Hat Deutschland zu viele Flüchtlinge aufgenommen?) werden Teilnehmer mit möglichst unterschiedlichen politischen Meinungen einander vermittelt, damit sie sich an einem Ort ihrer Wahl zum Zwiegespräch treffen können.
Anders als bei der Aktion „Deutschland spricht“, für die wir an vielen Stellen improvisieren und in kurzer Zeit technische Lösungen erfinden mussten, wird bei “My Country Talks” das Meiste automatisch ablaufen. Künftige Veranstalter müssen lediglich kontroverse politische Fragen formulieren und ein Datum für die Gespräche festlegen. Den Rest erledigt die Maschine: Die Software generiert den Fragebogen, den man sehr einfach auf Websites einbauen und verbreiten kann. Auch alles Weitere – die Datenbank der Teilnehmenden, die Kommunikation und das Matching nach Einstellung und Wohnort – übernimmt die Plattform.
Gebaut wird My Country Talks von der Berliner Agentur diesdas.digital, mit finanzieller Unterstützung von Google. Mittlerweile ist die Plattform fast fertig. Wir haben sie bereits mit zwei überregionalen Medien in Italien getestet; dort kamen rund 40 Paare zu “L’italia si parla” in Bologna zusammen (Italien ist mit sich im Gespräch). Auch zwei Regionalzeitungen in Ulm und Weimar testen gerade, ob alles funktioniert. Voraussichtlich noch in diesem Jahr wollen wir die Software für Partner in aller Welt öffnen. Schon jetzt haben wir Anfragen für Veranstaltungen in mehr als zehn Ländern, darunter die Schweiz, Dänemark, Norwegen, die Niederlande, Argentinien und der US-Bundesstaat Alaska.
Zuvor nutzen wir die Software, um noch einmal zu einem zweiten, noch größeren „Deutschland spricht“ aufzurufen: am 23. September werden sich erneut politisch Andersdenkende überall in Deutschland treffen. Schon jetzt haben wir ein Netz aus Medienpartnern aufgebaut, die für die Aktion zusammenarbeiten werden: die Deutsche Presse-Agentur (dpa), der Tagesspiegel, Tagesschau, Tagesthemen, T-Online, Süddeutsche Zeitung Online, Spiegel Online und viele andere nationale und regionale Medien sind bereits als Partner dabei. Mit weiteren Medien sind wir im Gespräch – und laden interessierte Kollegen herzlich ein, uns zu kontaktieren (mct@zeit.de).
Wir hoffen, dass unsere Idee aufgehen wird und wir tatsächlich Zehntausende, Hunderttausende Menschen in politische Vier-Augen-Gespräche mit Andersdenkenden verwickeln können. Erst in Deutschland – und bald auf der ganzen Welt.