Zahlreiche Studien belegen eine tiefe Vertrauenskrise in demokratischen Gesellschaften. Die Entfremdung trifft nicht nur staatliche Institutionen, Parteien und Kirchen, sondern auch die Medien. Verschärft wird diese Entwicklung durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, was die Verbreitung von Desinformation und Fakes befeuert. Der digitale Raum wird zunehmend als toxisch wahrgenommen. Genau hier könnte eine Chance für die lokale Zeitung liegen.
Es ist der Traum jeder Marke. Eine lebenslange Beziehung zum Kunden. Am liebsten zu hohen Preisen und mit viel Luft nach oben für jede Form von Upselling. Die US-amerikanische Marketingexpertin Robbie Kellman-Baxter spricht von einer „Forever Proposition“, einem Wertversprechen zwischen Marke und Kunde, das sich immer neu erfindet. Das sich nie überlebt oder endet.
Kaufleute kalkulieren die lebenslange Beziehung mit dem sogenannten Customer Lifetime Value (CLV), einer Metrik, die ganz auf Langfristigkeit und Loyalität einer Markenbeziehung ausgelegt ist. Der eine schwört vom Tag der Führerscheinprüfung bis zum letzten Atemzug auf den Mercedes, der andere auf seine Bank oder die seit Generationen familiengeführte Metzgerei im Ort.
Noch besser ist es, wenn diese lebenslange Beziehung gar einem Lock-in-Effekt unterliegt. Ihr Wertversprechen also so stark und die Alternativen so wenig attraktiv sind, dass die Kundin oder der Kunde gar nicht anders können als, wie etwa im Ökosystem von Apple, dauerhaft zu bleiben und tendenziell durch immer neue Angebote auch immer höhere Umsätze in einer Strategie des steigenden „Average Revenue per User“ (ARPU) zu produzieren.
Kellman-Baxter hat dafür in ihrem Buch „The Membership Economy“ eine umfassende Theorie formuliert. Sie unterscheidet zwischen der nüchternen Beziehung eines Kunden zum Produkt, die auf einer sachlichen Kosten-Nutzen-Abwägung beruht, und einer emotionalen Markenbindung, die so intensiv sein kann wie eine lebenslang gepflegte Vereinsmitgliedschaft.
Print-Ära endet mit Babyboomern
Auch die Tageszeitung, vor allem die lokale und regionale, genoss seit der Einführung des Generalanzeiger-Prinzips Mitte des 19. Jahrhunderts vielerorts eine Art Lock-in-Privileg. Wer zur lokalen Gemeinschaft gehören wollte, wer gesellschaftliche Ambitionen hegte oder als Handwerker und Einzelhändler die Märkte vor Ort im Blick haben wollte, der kam bis zum Ende des 20. Jahrhunderts an der Zeitung nicht vorbei.
Das Internet hat diesen Nimbus der Unverzichtbarkeit aufgelöst. Mit der Generation der vor 1965 geborenen Babyboomer endet der rund 150 Jahre währende Lebenszyklus der täglichen gedruckten Tageszeitung. Schon jetzt liegt der Altersschnitt für Printabonnenten im Lokalen bei rund 75 Jahren, der für das E-Paper als digitale Print-Kopie um gerade einmal fünf bis zehn Jahre darunter.
Die Jüngeren, die mit dem Internet, mit Streaming, Gaming und Social Media aufgewachsen sind, erkennen in einer täglichen Papierausgabe keinen Wert mehr für ihr Leben – vor allem nicht zu monatlichen Abopreisen, zu denen sich auf einen Streich gleich vier bis fünf digitale Angebote von Netflix über Spotify bis zu Amazon Prime buchen lassen.
Das eine ist der Verzicht auf das traditionelle Produkt der täglich gedruckten Lokalzeitung, das andere aber ist die Frage nach der lokal-journalistischen Grundversorgung, nach vertrauenswürdigen Inhalten und Serviceangeboten. Mag das eine für viele nicht mehr zeitgemäß sein, so scheint das andere notwendiger und aktueller denn je.
Tiefgreifende Entfremdung
Studien belegen eine beispiellose Vertrauenskrise in den demokratischen Gesellschaften des Westens. Eine tiefgreifende Entfremdung trifft nicht nur staatliche Institutionen, Parteien und Kirchen, sondern auch die Medien. Verschärft wird diese Entwicklung durch die Wucht, mit der die Künstliche Intelligenz, etwa über Large Language Models (LLMs) wie ChatGPT, den digitalen Raum erobert. Damit befeuert sie zugleich die Ausbreitung von Desinformation und Fakes. Ob ich einer bestimmten Information im Web, einem in meiner Social-Media-Timeline publizierten Foto oder Video trauen kann, verlangt immer mehr Expertenwissen. Das Misstrauen gegen einen zunehmend als toxisch empfunden digitalen Raum wächst.
Hier könnte die Chance für lokale Zeitungsmarken liegen, die sich auf neue Weise als Vertrauensanker und Lebensbegleiter für die Gemeinschaft vor Ort positionieren. Dafür aber müssen sich Verlage und Redaktionen neu erfinden.
Zeitung ohne Print – das bedeutet die konsequente Trennung zwischen dem traditionsrei- chen Papierprodukt inklusive seiner digitalen Kopien und einer wertstiftenden Funktion für die lokale Gemeinschaft und den lokalen Markt.
Wenn diese Neuausrichtung für viele nicht vorstellbar ist, dann liegt das auch daran, dass die Zeitungsproduktion unter den Bedingungen regionaler Marktbeherrschung und nach indus- trieller Logik immer weiter rationalisiert und kostenoptimiert wurde. Dabei ist vielfach genau das Kapital auf der Strecke geblieben, das heute wieder gebraucht wird, um die Rolle eines lokalen Vertrauensankers zu beanspruchen und neue Angebote und Geschäftsmodelle zu etablieren.
Lokale Nähe, Präsenz und Sichtbarkeit sind in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Die vielzitierten Touchpoints — sei es die nahbare Lokalredaktion, die Geschäftsstelle am Marktplatz oder die Anwesenheit eines Redaktionsvertreters bei der Vereinsversammlung — sind selten geworden.
Die optimierte Inhalte-Produktion findet vielfach im Industriegebiet außerhalb der Innenstädte statt — in Newsrooms, in denen sich mancher „Content-Worker“ beim redaktionellen Umschlagen hereinkommender E-Mails eher im isolierten Raumschiff fühlt als am Puls der lokalen Gemeinschaft. Nutzerinnen und Nutzer, die ganz direkt mit der Redaktion ins Gespräch kommen wollen, erscheinen in diesen durchgetakteten Prozessen wie ein unwillkommener Störfaktor.
Die aktive Wiederbelebung der Beziehung zu den Menschen vor Ort, nicht nur zu den zahlenden Nutzerinnen und Nutzern, ist für lokale Medien der Schlüssel in eine Welt ohne Print. „Nicht via Social Media“, wie der New Yorker Medienwissenschaftler Jay Rosen klarstellt, „sondern auf ganz persönliche und direkte Art“.
Gemeinsame Ziele binden stärker als flüchtige Digitalabos
Er vertritt, ebenso wie der langjährige Branchenexperte und Digitalpionier Ken Doctor („Newsonomics“, Lookout Santa Cruz), das Leitbild einer „Mission-based Membership“. Ein solches auf den gemeinsamen Zielen zwischen lokaler Gemeinschaft und lokalem Medium aufbauendes Geschäftsmodell mit hoher Loyalität und Identifikation bindet Menschen deutlich stärker an die Marke als ein kurzlebiges, flüchtiges Digitalabo.
Beide können sich auf einen legendären Vordenker berufen. Der Harvard-Ökonom Clayton Christensen (1952-2020) lieferte 1997 in seinem Buch „The Innovator’s Dilemma“ mit den Thesen zur Disruption eine der grundlegenden Theorien der Internet-Ökonomie. 2012 baten ihn seine Harvard-Kollegen vom benachbarten Niemann-Institut für Journalismus, seine Erkenntnisse auf die Zukunftsperspektiven von Zeitungsverlagen anzuwenden.
In dem Beitrag „Be the Disruptor“ konzentrierte Christensen seine Empfehlungen auf das Modell der sogenannten „Jobs to be done“ und riet den Verantwortlichen, sich drei grundlegende Fragen zu stellen:
Was sind die Aufgaben, von denen die Leser wollen, dass sie erledigt werden? Welche Mitarbeiter und welche Strukturen braucht das Unternehmen, um diese Aufgaben zu erfüllen? Was ist der beste Weg, die damit verbundenen Informationen an die Leser zu bringen?“
Christensens Lehre von den “Jobs to be done” ist hochmodern. Startup-Gründer fühlen sich automatisch an die wichtigsten Fragen eines potenziellen Investors erinnert: Wer ist eure Zielgruppe? Welches Problem löst ihr für sie und wie groß ist der Wert, den ihr damit schafft?
Pulitzer-Preis für Lookouts Co-Creation-Ansatz
Auf genau dieses Selbstverständnis hat Ken Doctor sein junges Lookout-Team eingeschworen. Dafür aber müsse die Marke immer präsent sein: „Wenn du vor Ort sichtbar bist, in jeder nur denkbaren Weise, dann zeigst du, dass du dich kümmerst.“ Im ständigen Zusammenspiel mit Leserinnen und Lesern greift die Redaktion die großen Anliegen der Community auf, beleuchtet Probleme wie die explodierenden Mieten aus unterschiedlichen Perspektiven und stößt Lösungsprozesse an. Dabei vermeidet das Team jede einseitige Parteinahme und organisiert den Dialog – bis hin zur eigenen Diskussionsveranstaltung.
Wenn du vor Ort sichtbar bist, in jeder nur denkbaren Weise, dann zeigst du, dass du dich kümmerst.
Ken Doctor, Gründer Lookout Local
Als Santa Cruz zum Jahreswechsel 2023/2024 von Überschwemmungen und Schlammfluten heimgesucht wurde und ganze Siedlungen von der Außenwelt abgeschnitten waren, spannte Lookout die Community als Augenzeugen und mobile Reporter ein. Die Redaktion kombinierte die Bilder, Videos und Beobachtungen der Bürger in einem Livefeed mit der eigenen Berichterstattung. Die Jury des Pulitzer-Preises sah darin einen wegweisenden neuen Ansatz und zeichnete das Team mit einem ihrer begehrten Awards aus.
Aus Sicht von Jay Rosen sind solche Co-Creation-Konzepte, also die redaktionelle Kooperation von Journalisten und engagierten Nutzern, ohne Alternative: „Wir brauchen neue Beteiligungsmodelle, bei denen Menschen nicht nur loyale Konsumenten sind, sondern aktiv mitmachen können.“ So schaffe es ein lokales Membership-Modell, Menschen zu binden und zugleich ein als fair und werthaltig empfundenes Geschäftsmodell zu etablieren.
„Missionbased Membership“
Bislang sind es vor allem einige nationale Verlagsmarken, die über die Pflege eines intensiven Gemeinschaftsgefühls zwischen Marke und Nutzern die Bindungskraft einer „Membership“ erzielen. Jay Rosen nennt den britischen Guardian. Aber auch die ZEIT, die ihre Leserinnen und Leser als „Freunde der ZEIT“ anspricht, gilt international als Vorbild für eine „Missionbased Membership“.
Dank der konsequenten Ausrichtung an der anspruchsvollen Community eilt die Hamburger Wochenzeitung sowohl in der Printauflage als auch in der digitalen Reichweite von Rekord zu Rekord. Mit herausragenden Podcast-Formaten oder Dialogangeboten wie „Deutschland spricht“ oder „Plan D“ erfüllt die ZEIT ihre „Jobs to be done“. Nur langsam erreichen solche Konzepte auch Lokal- und Regionalverlage.
Die Zeitungswelt in den USA schaut gespannt nach Minnesota, wo ausgerechnet der langjährige Google-Top-Manager Steve Grove als Verleger und CEO die Star Tribune fit machen will für die Ära nach Print. Das neue Mission-Statement der größten Zeitungsmarke des Bundesstaates klingt fast wie die des kleinen Startups Lookout: „Wir lieben Minnesota und hoffen, unsere Arbeit kann es besser machen. […] Als Minnesota Star Tribune ist es unser Anspruch, das Herz und die Stimme des Nordens zu vertreten. Ihr werdet das nicht nur in unserem Journalismus spüren, sondern überall, wo ihr uns trefft.“
Der Grund, warum Innovation für etablierte Newsrooms oft so schwierig erscheint, liegt darin, dass sie, obwohl sie hochbegabte Menschen beschäftigen, in organisatorischen Strukturen arbeiten, deren Prozesse und Prioritäten nicht für die Aufgaben entwickelt wurden, die jetzt anstehen.
Prof. Clayton Christensen
Ob der Digitalpionier Ken Doctor, der einstige Google-Medienmann Steve Grove oder die Schibsted-Manager Øyulf Hjertenes und Fredric Karén: Sie alle sind überzeugt, dass Lokaljournalismus auch in einer Welt ohne Print ein tragfähiges Geschäftsmodell bleibt, das sich über die richtigen Kennzahlen steuern lässt.
Es sind vor allem diese sechs Metriken, die wie Polarsterne den Weg weisen:
- Während überregionale Verlagsmarken ein potenzielles Millionen-Publikum ansprechen, bewegen sich lokale und regionale Medienhäuser in begrenzten Märkten. Jeder Haushalt, jede Nutzerin und jeder Nutzer zählen. Ein hoher Marktausschöpfungsgrad (Market Utilisation Rate: MUR) ist deshalb essenziell.
- Der Average Revenue Per User (ARPU) misst dagegen die maximale Ausschöpfung der individuellen Kundenbeziehung. Gerade ein eher niedrigpreisiges Digitalabo bietet in einem bindungsstarken Membership-Modell Potenziale für ein Up-selling durch Zusatzangebote.
- Die härteste Währung für die Relevanz eines lokalen Inhalte-Angebots ist die auch von DRIVE intensiv genutzte Media Time. Wieviel Zeit verbringt eine Nutzerin auf den Seiten des Medienhauses? Für welche Themen investiert ein Nutzer sein Zeitbudget am liebsten? Wie gelingt es,
- Menschen in feste Nutzungsroutinen, sogenannte User Habits zu bringen, mit denen der Besuch bei der lokalen Medienmarke zu einem festen Teil des Tagesprogramms wird – so wie einst das Ritual der gedruckten Ausgabe am Frühstückstisch.
- Ein negativer Messwert von hoher Aussagekraft ist die Kündigerquote oder Churn Rate. Geht die Media Time zurück und verlieren Nutzer messbar ihr Interesse, ist es höchste Zeit für gezieltes Gegensteuern (Retention). Die weltweit immer noch viel zu hohen Churn Rates auf Digitalabos belegen, wie dringend Verlage die Bindungs- kraft ihrer Angebote steigern müssen.
- Gradmesser für diese Bindungsstärke von Zeitungsmarken war in Printzeiten die sogenannte Leser-Blatt-Bindung. An ihre Stelle tritt ein Loyalty Score, der die Bindungskraft und das Loyalisierungspotenzial bestimmter Angebote in deren Verbreitungsregion misst.
Am Ende mündet eine konsequente Pflege und Entwicklung von langlebigen Kundenbeziehungen im Customer Lifetime Value (CLV). Als ideale Metrik des Membership-Konzepts steht eine CLV-Strategie für eine loyale und vertrauens- volle Vertragsbindung auf Lebenszeit — genau die Qualitäten also, die das Zeitungsabonnement einst ausgezeichnet haben.
Der Beitrag ist ursprünglich im DRIVE-Whitepaper „The Day After. Lokalzeitung ohne Print“ erschienen. Hier geht es zum kostenfreien Download. DRIVE ist eine Initiative der dpa und der Unternehmensberatung Highberg/Schickler. Ihr Ziel ist es, Regionalverlage in der digitalen Transformation durch den gemeinsamen Einsatz von Daten-Analysen und KI-Algorithmen zu unterstützen. Mittlerweile haben sich rund 30 Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz dem Projekt angeschlossen.
Weitere Beiträge zu DRIVE in diesem Blog.
Notizblock:
- Meinolf Ellers auf LinkedIn
- Pressemitteilung zum DRIVE-Whitepaper