Es ist eine gute Nachricht für den Journalismus. Auch in Zeiten fallender Printauflagen, einer starken Konkurrenz durch digitale Unterhaltungsangebote und einer immer noch unterentwickelten Bezahlkultur im Netz bewegen starke Inhalte die Menschen. Neu dabei ist, dass Redaktionen in den digitalen Kanälen anders als in der analogen Welt exakt beobachten können, welche Themen und Stoffe in welchen Nutzergruppen und Kontexten welche Wirkung erzeugen. Wer diese noch vor Jahren praktisch unbekannte „Physik der Inhalte“ beherrschen lernt, hat die Chance, seine Nutzer dauerhaft zu treuen Kunden zu machen.
Neben den führenden Verlagen in Skandinavien, Großbritannien und den USA machen auch erste Redaktionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Erfahrung, dass sich mit den richtigen journalistischen Inhalten die digitalen Abo-Erlöse erheblich steigern lassen. Die dpa begleitet diese Entwicklung mit dem Projekt dpa-Performing Content und dem internationalen, von der Google GNI geförderten Vorhaben C-POP. Bei der Frage nach den journalistischen Erfolgsformeln einer „Story driven reader revenue“-Strategie zeichnen sich dabei erste Empfehlungen ab:
1.) Wer ist Deine Zielgruppe?
Das Konzept „Eine für alle“, das beispielsweise die Regionalzeitung als umfassender „Generalanzeiger“ in den vergangenen 150 Jahren geprägt hat, lässt sich im Zeitalter von Netflix und Spotify kaum aufrechterhalten. Auch Medienmarken stellen fest, dass bestimmte Milieus oder Bevölkerungsgruppen mit maßgeschneiderten Angeboten leichter zu erreichen sind als andere. Typologie-Konzepte wie Limbic oder Sinus, mit denen Handel oder Konsumgüterbranche seit langem ihre Zielgruppen bestimmen, werden nun ebenso in den Medien erprobt wie Persona-Modelle, die Verlag und Redaktion ihre wichtigsten Kundentypen ständig vor Augen führen.
- Das „Wall Street Journal“ hat gleich fünf verschiedene Persona-Profile entwickelt, mit denen Nutzer nicht nur zu kurzlebigen Abonnenten, sondern gleich zu treuen Mitgliedern gemacht werden sollen.
- Erste deutsche Regionalverlage entwickeln spezielle Produkte für die Limbic-Zielgruppe der Harmonizer. Sie machen rund 30 Prozent der Bevölkerung aus und sind getreu ihrem Lebensmotto „Meine Familie ist meine Insel“ besonders empfänglich für Informationen, die das Leben besser, sicherer, nachhaltiger machen.
2.) Nähe läuft.
Was hat das mit mir zu tun? Je klarer Inhalte eine räumliche oder inhaltliche Nähe zum Nutzer herstellen, desto größer ihre Wirkung. Sie werden häufiger und länger gelesen, öfter geteilt und führen häufiger zum Abschluss eines Abos.
- „Bergens Tidende“ (Schibsted) konzentriert einen großen Teil seiner Ressourcen täglich auf nur eine Handvoll lokaler Topthemen mit dem größten Bindungs- und Conversion-Potential.
- Bei TA Media in der Schweiz erzielen Themen, die offensichtlich das persönliche Schicksal des Einzelnen betreffen, aber auch Infos zur praktische Lebenshilfe die besten Resultate.
3.) Ein Thema macht Karriere.
Starke Themen und Geschichten haben – unabhängig vom traditionellen Redaktionsschluss – einen Lebenszyklus. Redaktionen können die Karriere eines Themas steuern und verlängern.
- Was heute gut gelaufen ist, wird auch morgen nochmal gut laufen, heißt eine Grundregel bei „Dagens Nyheter“ (Bonnier, Stockholm)
- Das Nachdrehen lohnt. Gib Artikeln eine zweite Chance – eventuell mit einem anderen Titel oder anderen Bildern (Sascha Borowski, „Augsburger Allgemeine“).
- Langlebige „Evergreen“-Inhalte sind besonders effektiv, um Nutzer zu Abonnenten zu machen (Yannick Dillinger, Schwäbisch Media)
4.) Die Wirkung verstärken.
Treffen Inhalte voll ins Herz der Zielgruppe, dann können Redaktionen die Bindungswirkung mit multimedialen 360-Grad-Konzepten noch verstärken – mit Videos, Newslettern, Podcasts, interaktive Erzählformen oder passende Archivinhalte aus der Datenbank steht – je nach Stoff – eine ganze Klaviatur zur Verfügung.
- „Ekstra Bladet“ in Kopenhagen definiert „Super Topics“, die auf so großes Interesse stoßen, dass sie von der Redaktion gar nicht breit genug aufgezogen werden können.
- Das „Hamburger Abendblatt“ hat rund um seine Spitzenthemen eine ambitionierte Produktoffensive mit Premium- Podcasts und hochwertigen Magazinen gestartet.
5.) Engagement steigert Loyalität.
Bieten Themen und Artikel Ansatzpunkte, den Nutzer aktiv einzubinden und bei der Stange zu halten? Nichts reduziert die Kündigungsneigung eines digitalen Abokunden mehr als „Engagement“.
- “Financial Times”, “New York Times” oder die „Neue Zürcher Zeitung” bieten Dutzende unterschiedlicher Newsletter an, um das Engagement der Kunden hoch zu halten.
- Umfragetools wie Opinary beziehen den Nutzer aktiv ein und liefern wertvolle Engagement-Daten.
6.) Die Nischen nicht unterschätzen.
Geht es darum, die Bedeutung von Themen nur quantitativ zu messen, dann schneiden Ressorts wie Kultur, Lokalsport oder Vereinsleben eher schlecht ab. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass es oft gerade solche Nischenstoffe sind, die einen Nutzer überzeugen, ein Abo abzuschließen.
- „Sollen wir die Kultur wegen enttäuschender Nutzungsdaten weglassen? Nein, wir müssen sie einfach besser machen.“ (Pal Nedregotten, Amedia, Oslo)
- Sascha Borowski („Augsburger Allgemeine“): Es geht um spitze Zielgruppen, aber wenn die Story gut gemacht ist, sind diese bereit zum Abo.
7.) Metadaten machen Inhalte intelligent.
Metadaten verleihen redaktionellen Inhalten technische Intelligenz und machen sie im Sinne einer “Physik der Inhalte” programmierbar, etwa um das Angebot zu personalisieren.
- Die Redakteure bei Schibsted legen für jeden Artikel den Nachrichtenwert (Skala von eins bis fünf) und den sogenannten Lifetime Value fest (short, medium, long). Geht es um die kurzlebige schnelle News oder um zeitlose Evergreen-Stücke?
- Beim Verlagskonzern Fairfax in Australien unterscheidet die Redaktion “News to know”, ohne die der Leser nicht mitreden kann, unterhaltsame “News to entertain” sowie “News to use” mit hohem praktischen Nutzwert. Jede Kategorie funktioniert anders.
8.) Daten sind nicht alles, aber ohne Daten ist alles nichts.
Die digitalen Kanäle erlauben es Redaktionen, Nutzung und Nutzer bis ins Detail zu analysieren und die Attraktivität des Angebots mit Kennzahlen (KPI’s) Schritt für Schritt zu verbessern.
- Mit dem Artikel-Score hat Schwäbisch Media eine Maßeinheit für redaktionellen Erfolg eingeführt. Sie dient als Basis, um Nutzer mit den richtigen Inhalten zu Kunden zu machen.
- Dank einer umfassenden Daten- und Analyse-Strategie konnte Ippen digital nicht nur seine digitalen Reichweiten spektakulär steigern, sondern auch die Loyalität der Nutzer.
9.) Der Algorithmus – Freund und Helfer.
Erst Künstliche Intelligenz und Algorithmen helfen, die Daten zu analysieren und die „Physik der Inhalte“ operativ anwendbar zu machen.
- Schwäbisch Media plant, mit „Predictive Analytics“-Konzepten das Erfolgspotential von Themen und Formaten vorhersehbar zu machen.
- Uwe Vetterick (Chefredakteur „Sächsische Zeitung“) hält Skeptikern entgegen: „Wir verstehen den Algorithmus, wir haben ihn selber aufgesetzt.“
10.) Die Marke als Leuchtturm.
Inhalte und Kanäle mögen individueller und Zielgruppen-genauer werden, die publizistischen Marken strahlen auch weiter auf die ganze Breite des erreichbaren Marktes aus. Um für jüngere Zielgruppen relevant zu bleiben und der Flüchtigkeit digitaler Abo-Beziehungen eine langfristige und tiefgehende „Membership“ entgegenzusetzen, rät der Weltverband INMA Verlagen zu einer zeitlosen „Forever proposition“. Es gehe um eine größere Mission, die auch von den potentiellen Kunden geteilt werde.
- Clayton Christensen, Vater der Disruptionstheorie (“The innovators dilemma”) rät Regionalzeitungen, sich vor Ort der „Jobs to be done“ anzunehmen, der Aufgaben und Probleme also, die eine lokale Gemeinschaft polarisieren und die nach einem Kümmerer und Moderator suchen, ob bezahlbarer Wohnraum, das wachsende Stadt-Land-Gefälle, die Zukunft der Mobilität oder lokaler Klimaschutz.
- Beim britischen „Guardian“ oder der “taz” begreifen sich die Member eher als Paten einer journalistischen Mission mit gesellschaftlichem Auftrag und zahlen freiwillig. Auf einen ähnlichen Impuls setzt die „Washington Post“ mit ihrem aufrüttelnden Claim „Democracy dies in darkness“
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Meinolf Ellers
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